84% der Schweizer Bevölkerung leben in Städten und Agglomerationen. Diese Zahl stimmte im Rahmen der Diskussion rund um die Zukunft der Umweltbildung, die ZHAW und das schwedische Vereinäxtvärket aus Malmö nachdenklich. Nicht, weil die naturbezogene Umweltbildung an Bedeutung verloren hätte – im Gegenteil. Trotzdem drängt sich die Frage auf: Erreichen wir mit unseren Angeboten tatsächlich die Mehrheit der Bevölkerung? Und haben unsere Angebote Auswirkungen auf die Alltagshandlungen der Teilnehmenden?
Keine Entweder-oder-Frage
Das Positionspapier zur urbanen Umweltbildung, das am Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen der ZHAW gemeinsam mit der schwedischen NGO Växtvärket aus Malmö entwickelt wurde, ist explizit nicht als Kritik an der wertvollen Arbeit gedacht, die in Wäldern, an Bächen und in Naturschutzgebieten geleistet wird. Die methodische Vielfalt, das ganzheitliche Erfahrungslernen und der reiche Erfahrungsschatz der naturbezogenen Umweltbildung bilden ein unverzichtbares Fundament. Vielmehr geht es um eine Ergänzung: Wie können wir zusätzlich jene Menschen erreichen, die selten oder nie in «naturnahe» Gebiete kommen?
Was macht urbane Umweltbildung aus?
Der urbane Ansatz bringt Umweltbildung dorthin, wo Menschen ihren Alltag verbringen. Dabei kristallisierten sich in unserer Zusammenarbeit vier zentrale Eckpfeiler heraus:
Öffentlicher Raum als demokratischer Handlungs- und Gestaltungsraum: Anders als in oft geschützten Naturgebieten, wo Eingriffe häufig unerwünscht sind, bieten städtische Plätze und Quartiere Möglichkeiten zur aktiven Mitgestaltung. Hier können Menschen konkret erfahren, dass Veränderung möglich ist.
Kollaboration in einem transdisziplinären Umfeld: Die Stadt bringt Menschen verschiedener Generationen und Hintergründe und unterschiedlichste Organisationen und Institutionen zusammen. Intergenerationelles und interkulturelles Lernen geschieht hier oft ganz selbstverständlich.
Handwerk für den Übergang vom Wissen zum Handeln: Ob beim Bau von Hochbeeten, beim Anlegen urbaner Gärten oder in offenen Werkstätten – praktisches Tun ermöglicht Selbstwirksamkeitserfahrungen und konkrete Handlungsveränderungen im Alltag.
Nachhaltigkeit als normative Orientierung: Im urbanen Kontext werden alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – ökologisch, sozial und ökonomisch – unmittelbar erlebbar. Materialflüsse, Energiekreisläufe und soziale Dynamiken sind direkt sichtbar.
Neue Lernorte entdecken
Typische Lernorte urbaner Umweltbildung sind urbane Gärten, offene Werkstätten, Bauspielplätze, moderne Bibliotheken als «Community-Hubs» oder temporär verfügbare Brachen. Diese Orte zeichnen sich durch niederschwelligen Zugang und die Möglichkeit zur kollektiven Gestaltung aus.
Ein inspirierendes Beispiel ist der Bauspielplatz Guldängen in Malmö, den Växtvärket betreibt: Kinder und Jugendliche erforschen hier Farben, Formen, Materialien und Techniken frei und setzen ihre eigenen Bau-Ideen um. Gleichzeitig ist der Platz ein urbaner Garten und dient als Knotenpunkt für zirkuläre Materialkreisläufe und macht Nachhaltigkeit ganz praktisch erfahrbar.
Die Natur-Kultur-Dichotomie überwinden
Ein zentraler Aspekt urbaner Umweltbildung ist die Überwindung der künstlichen Trennung zwischen Natur und Kultur. Natur ist nicht nur «da draussen» in möglichst unberührten Landschaften – sie umgibt uns auch in der Stadt und wir sind Teil davon. Der gebaute Raum wird nicht als Gegensatz zur Natur begriffen, sondern als Teil eines Spektrums unterschiedlicher menschlicher Beeinflussung.
Diese Perspektive ist auch für die naturbezogene Umweltbildung bereichernd: Sie vermeidet die problematische Vorstellung, dass dem menschlichen Einfluss per se etwas Negatives anhaftet und zeigt stattdessen Möglichkeiten für positives, gestaltendes Handeln auf.
Chancen für die Umweltbildung
Für Organisationen und Personen, die primär in naturnahen Gebieten arbeiten, kann der urbane Ansatz neue Perspektiven eröffnen:
- Breitere Zielgruppenansprache: Urbane Angebote erreichen Menschen, die nicht zu klassischen Umweltbildungsveranstaltungen kommen würden.
- Alltagsrelevanz: Verhaltensänderungen im alltäglichen Umfeld haben oft grössere Wirkung als Entscheidungen bei gelegentlichen Naturbesuchen.
- Neue Kooperationen: Die transdisziplinäre Ausrichtung ermöglicht Partnerschaften mit Akteur:innen aus Stadtentwicklung, Architektur, Kunst oder soziokultureller Animation.
- Ergänzende Kompetenzen: Methoden der partizipativen Stadtentwicklung oder des handwerklichen Gestaltens können auch naturbezogene Angebote bereichern.
Gemeinsam die Wirkung verstärken
Die Herausforderungen unserer Zeit – Klimawandel, Biodiversitätsverlust, soziale Ungleichheit – erfordern Veränderungen in der Breite der Gesellschaft. Dazu braucht es sowohl die tiefe Naturverbindung, die in Wäldern und an Gewässern entsteht, als auch die alltagsnahen Handlungsimpulse, die urbane Umweltbildung setzen kann.
Urbane Umweltbildung ist keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung. Sie erweitert das Spektrum umweltbildnerischen Engagements und trägt dazu bei, mehr Menschen für nachhaltige Entwicklung zu begeistern – dort, wo sie leben.
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Das Positionspapier « Urbane Umweltbildung » entstand im Rahmen eines von Movetia finanzierten Austauschprojekts zwischen der ZHAW und dem Verein Växtvärket aus Malmö. Das Positionspapier steht als Diskussionsgrundlage und Inspiration für Bildungsorganisationen unter folgender URL zur Verfügung: https://doi.org/10.21256/zhaw-33942